Weltordnung (German Edition) by Henry A. Kissinger

Weltordnung (German Edition) by Henry A. Kissinger

Autor:Henry A. Kissinger [Kissinger, Henry A.]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: C. Bertelsmann Verlag
veröffentlicht: 2014-12-08T16:00:00+00:00


Neben diesen abstrakten Prinzipien für die Weltordnung vertrat Indien eine Doktrin für seine Sicherheit auf regionaler Ebene. So wie die ersten amerikanischen Führer mit der Monroedoktrin ein Konzept für Amerikas Sonderrolle in der westlichen Hemisphäre entwickelt hatten, beanspruchte Indien in der Region am Indischen Ozean zwischen Ostindien und dem Horn von Afrika eine Sonderstellung. Wie Großbritannien mit Blick auf das Europa im 18. und 19. Jahrhundert versuchte, es zu verhindern, dass eine Macht in dieser riesigen Weltregion zur Vorherrschaft aufstieg. Die ersten amerikanischen Führer wollten mit Blick auf die Monroedoktrin keineswegs die Billigung der Länder auf der westlichen Halbkugel gewinnen.

Indien betreibt in der Region seiner besonderen strategischen Interessen eine vergleichbare Politik, die auf seiner eigenen Definition einer südasiatischen Ordnung beruht. Und während die Sichtweisen Indiens und Amerikas im Kalten Krieg oft in Gegensatz zueinander gerieten, waren sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Blick auf diese Region und deren Ränder weitgehend gleichgerichtet.

Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde Indien von vielen widersprüchlichen Zwängen befreit und hatte einige seiner sozialistischen Illusionen verloren. Angesichts der Haushaltskrise 1991 leitete es, von einem IWF-Programm begleitet, wirtschaftliche Reformen ein. Inzwischen sind indische Unternehmen in manchen Sektoren an die Weltspitze aufgestiegen. Dieser neue Kurs spiegelt sich in Indiens diplomatischer Positionierung wider. Es sucht weltweit nach neuen Partnerschaften, insbesondere in Afrika und Asien, und es strebt weltweit eine stärkere Rolle in internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen an. Mit seinem wirtschaftlichen und diplomatischen Einfluss hat Indien auch seine militärische Stärke deutlich ausgebaut, einschließlich der seiner Marine und seines Atomwaffenarsenals. Und in einigen Jahrzehnten wird Indien China als das bevölkerungsreichste Land Asiens (und der Welt) ablösen.

Indiens Stellung in der Weltordnung wird kompliziert durch strukturelle Faktoren, die sich aus seiner Gründung ergeben haben. Am komplexesten werden sich seine Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn Pakistan, Bangladesch, Afghanistan und China gestalten. Ihre zwiespältigen Beziehungen und Gegensätze spiegeln das Erbe eines Jahrtausends wider, das rivalisierende Invasionen und Einwanderungswellen auf dem Subkontinent, die Vorstöße der Briten an den Rändern ihrer indischen Einflusssphäre und das rasche Ende ihrer Kolonialherrschaft gleich nach dem Zweiten Weltkrieg prägten. Kein Nachfolgestaat hat die Grenzen, die bei der Teilung 1947 gezogen wurden, bislang umfassend akzeptiert. Von der einen oder anderen Partei als provisorisch behandelt, waren sie seither immer wieder Schauplatz religiös oder anders motivierter Gewaltausbrüche, militärischer Zusammenstöße oder des Einsickerns von Terroristen.

Die Grenzen zu Pakistan, die grob die dichtesten Konzentrationen der islamischen Bevölkerung auf dem Subkontinent einschlossen, trennten Ethnien voneinander und führten zu einem Staat aus zwei nicht aneinandergrenzenden Teilen, die einst ebenfalls zum britischen Indien gehört hatten und durch Tausende von Kilometern indisches Territorium voneinander getrennt waren. Diese Gegebenheiten führten zu einer langen Abfolge von Kriegen. Die Grenzen zu Afghanistan und China wurden auf der Basis von Linien proklamiert, welche die britischen Kolonialherren im 19. Jahrhundert gezogen hatten. Sie wurden von den gegnerischen Parteien abgelehnt und blieben bis heute umstritten. Indien und Pakistan investierten stark in den Aufbau eines Atomwaffenarsenals und in regionale Militärstützpunkte. Pakistan duldet oder unterstützt sogar einen gewaltbereiten Extremismus, darunter Terrorismus in Afghanistan und sogar in Indien.189

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